Als ich 6 Jahre alt war, sind meine Eltern und Schwester 1989 aus Schlesien in die damalige BRD ausgewandert, um der Familie ein besseres Leben zu ermöglichen und der Ungewissenheit über die Zukunft in sozialistisch geprägten Ostblockstaaten zu entfliehen. Die DDR habe ich eigentlich nur in Bruchstücken erfahren und als Kind damals sicherlich nicht verstanden. Die Erinnerungen an die aussergewöhnlichen Erfahrungen sind jedoch bis heute geblieben.

Bis dahin bin ich noch nie im Ausland gewesen und dann sollte es gleich durch zwei Grenzen und Länder in die neue Zukunft gehen. Das war für ein Kind schon ein Erlebnis. Zuvor hatte ich die DDR nur anhand von mitgebrachten Geschenken von Familenmitgliedern kennengelernt. Darunter waren eine TT-Modelleisenbahn, was eine Riesenattraktion war und Lego-ähnliche Bauklötze, sowie Puppen für meine Schwester.

Schon beim Organisieren der Ausreisepapiere war ich von Anfang an dabei und begleitete meine Mutter regelmäßig zu den zuständigen Behörden.

Die Ausreise haben wir damals mit dem Zug bestritten. Die Abfahrt war in Oppeln (polnisch: Opole) und es ging in Richtung Nord-West zunächst nach Breslau (polnisch: Wrocław). Ich kann mich bis heute an das rote Abfahrtssignal in der Nähe des Bahnsteigs in Oppeln erinnern, das zum ersten mal in meinen Augen auf grün geschaltet ist. Meine Tante hatte uns zusammen mit meinen zwei Cousins zum Bahnhof gebracht. Als wir in den Zug gestiegen sind, hatten alle Tränen in den Augen. Niemand wusste zu dem Zeitpunkt, ob und wann wir uns jemals wiedersehen würden. Die Reise in den Westen mit zwei Koffern war wohl gefühlsmäßig eine große Sache, die viel Mut und Kraft gefordert hat. Alles andere Hab-und-Gut wurde zürückgelassen und teilweise an die Familie verteilt bzw. für US-Dollar (damals sichere Währung) verkauft.

Angeblich soll ich beim Überfahren der Polen-DDR Grenze und der DDR-BRD Grenze geschlafen haben. Ich kann mich jedoch sehr gut an die Geräuschkulissen und Stimmen erinnern. Ich sehe lange Waggongänge und höre durch die Zöllner oder Grenzer zugeschlagene Abteiltüren. Obwohl ich schlief, meinte ich eine ganze Ewigkeit zu warten bis ich wieder das langsame Anrollen des Zuges hörte. Ab da erinnere ich mich erst wieder an den nächsten morgen: Einfahrt über die Hohenzollernbrücke über den Rhein in den Kölner Hauptbahnhof im Schatten des Kölner Doms. Wir waren am Ziel! So etwas Spektakuläres wie diese Brückenkonstruktion und Kathedrale hatte ich zuvor noch nie gesehen. Am Bahnhof standen eingetopfte Palmen. Als Kind dachte ich da: So sieht der Westen aus, andere Welt! Seit dem bin ich Palmen-Fan. Meine Eltern waren zuvor schon zu Besuch in der BRD und bei einem Teil der Familie in der DDR. Es gab allerdings nicht viele Fotos, kein Internet und kaum TV, um sich eine Vorstellung zu machen, wie diese Länder so aussahen. Ich war demnach schon immer neugierig, wo die eigentlich hingefahren sind. Fotos aus dem Fenster eines Bahnwagons waren da nicht wirklich aussagekräftig und voller Gemeimnisse.

Nach dem Fall der Mauer und kurz vor dem Wegfall der Grenzen, hat sich meine Mutter allein mit uns Kindern im Sommer 1990 getraut für die Sommerferien die Familien in Schlesien zu besuchen und noch einmal die lange Reise über die DDR gewagt. Sie meinte damals, wenn man Sie nicht zürück in die BRD ließe, dann wäre es halt so und wir müssten wieder zurück nach Polen. In Wahrheit hatten wir aber alle Angst und machten uns darüber sorgen, was passieren könnte da Papa in der BRD war.

Diesmal ging es nicht mit der Bahn über die DDR nach Polen, sondern erstmals mit dem Reisebus. Die Fahrt damals dauerte insgesamt mehr als 20 Stunden. Kaum vorstellbar heute im Zeitalter von Flugzeug und Hochgeschwindigkeitszügen!

Die Reiseroute ging über die große Transitautobahn A2 und damit über die wichtigste und größte Grenzübergangsstelle der DDR Marienborn. Schon Kilometer vorher bildeten sich ellenlange Stauketten.

An der Grenzstation angekommen, erinnere ich mich daran, wie die Kontrollöre der MfS den Bus betraten und die vom Busfahrer eingesammelten Reisepässe entgegennahmen. Beim Beobachten aus dem Fenster der Buses sah ich, wie Koffer von Reisenden geöffnet wurden und wie Frauen drumherum geweint haben. Auch die Schusswaffen der Staatssicherheit sind in Erinnerung geblieben.

Bei der Abfahrt des Buses sah ich das lange Sperrgebiet und die unheimlichen Beobachtungstüre aus der Ferne. Die Durchfahrt durch die DDR fühlte sich wie ein Horrorfilm an. Da so langsam die Dämmerung und Nacht einkehrte sah das Land grau aus. In der Weite sah man hier und da Bauernhöfe mit wenig Belichtung. Auf die Frage hin, wann wir das nächste Mal anhielten, erhielt ich die Antwort, dass es auf diesem Gebiet besser ist, nicht anzuhalten. Menschen habe ich auf der Durchfahrt keine gesehen. Das Land wirkte traurig, grau und leer und dann kam später die holprige Autobahn aus den Zeiten des Deutschen Reiches. Ich habe versucht das Rattern zu zählen, um zu schlafen. Ab da bin ich tief eingeschlafen. Ich weiss noch gut, wie sich der Busfahrer am nächsten morgen irgendwo in Polen verfahren hat (falsche Abfahrt genommen). Bei unserer Ankunft hat keiner auf uns gewartet. Das war das erste Mal in meinem Leben, wo meine Mutter für uns ein Taxi bestellt hatte, um auf den Hof unserer Familie zu fahren.

An die Rückfahrt kann ich mich nicht gut erinnern. Ich weiss nur, wie wir verzeifelt auf den Reisebus in die BRD gewartet haben. Tage Zuvor hatte meine Mutter telefonisch zugesichert bekommen, dass der Bus halten würde. Ich erinnere mich, wie ich sogar meine Mutter fragte, ob alles ok ist und der Bus kommen würde. Es gab in unserer Heimatstadt zu dem Zeitpunkt keine offizielle Haltestelle für Reisebuse in den Westen. Die Reisebusunternehmen waren auch nicht als Linienverkehr organisiert, so wie wir es heute kennen. Plätze waren begehrt. Der Bus hätte unsere Plätze einfach an andere Interessenten vergeben können und hätte an uns vorbeifahren können. Wir standen an der Strasse wie Autostop-Anhalter und haben die Hände und Füße ausgestreckt, um zu signalisieren, dass der Bus halten soll als wir ihn in der Ferne erblickten. Bei so manchen Busen haben wir falsch gelegen und es war nicht unser Bus gewesen.

Diese Lückenhaften Erinnerungen an Grenzen, unterschiedliche Länder und unheimliche Zeugnisse sind der Grund dafür, warum ich mich entschlossen habe die Seite DDR-Grenzen.de zu erstellen. Warum war die DDR so unheimlich? Wieso durfte man dort nicht anhalten auch wenn es Rastplätze gab? Warum musste man überall immer so lange warten? Warum haben Menschen geweint? Wie kann es sein, dass auf beiden Seiten einer Grenze so ein unterschiedliches Leben geführt werden konnte? Wieso war in der BRD alles so bunt und warum wollten alle dort hin? Wie viele Grenzübergänge gab es? Wie unterschieden sich diese? Waren die Prozesse dort die Gleichen? Warum war auf einmal alles vorbei und warum ist es besser so? Faszination und Schrecken zu den DDR Grenzen sollen auf dieser Seite gesammelt werden.

Nach der Wende sind wir als Kinder übrigens noch ein paar mal über die ehemalige DDR nach Polen gefahren. Die holprige Autobahn bis zur polnischen Grenze hat es noch lange gegeben und sie erinnerte mich an die ersten Reisen. Statt der Grenze der DDR, habe ich dann die Grenze zu Polen mit Interesse begutachtet, wenn ich es bei der nächtlichen Überfahrt geschafft habe nicht einzuschlafen. Meistens ging es schief!

Wahrscheinlich interessiere ich mich seit dem umso mehr für andere Länder und Kulturen. Ich habe inzwischen bereits in Polen, Deutschland, Irland und in Italien gelebt und bewundere die Unterschiede. Warum nicht dorthin gehen, wo es einem gefällt? Das Leben ist zu kurz, um gefesselt zu sein wie zu Zeiten der DDR.

„Alle Reisen haben eine Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt“ (Martin Buber)

„Das Glück muss entlang der Strasse gefunden werden nicht am Ende des Weges“ (David Dunn)

„Reisen veredelt den Geist und räumt mit unseren Vorurteilen auf“ (Oscar Wilde)

In diesem Sinne wünsche ich ihnen ein angenehmes Lesevergnügen ohne Grenzblockaden!

Marian Solga